Knabenchor-Urteil

Knabenchor-Urteil des VG Berlin v. 16.8.2019 (VG 3 K 113/19 )

Kommentar: 
Diskriminierung ist keine Kunst

  1. Das Verwaltungsgericht bestätigt die Rechtsauffassung der Klägerin, dass staatliche Musikschulen Bewerberinnen nicht wegen ihres Geschlechts und nicht wegen einer männlichen Chortradition ausschließen dürfen.Dies muss sowohl für Chorschulen an Hochschulen, wie der UdK als auch für solche in kommunaler Trägerschaft, wie dem Dresdner Kreuzchor oder dem Leipziger Thomanerchor gelten.Knabenchorschulen bieten eine hochwertige musikalische Ausbildung – bislang nur für Jungen. Sie verfügen über Ressourcen, Wissen, Kön- nen, Renommee und eine Vielzahl von Auftrittsmöglichkeiten im In- und Ausland. Ihre Gründungsgeschichte ist aber auch zentral mit dem diskriminierenden Verbot von Frauen in der Kirchenmusik verbunden. Diese Tradition lebte bislang fort, so- weit Mädchen der Zugang zu Knabenchorschulen verwehrt blieb.

    Die frühere Stellungnahme der UdK „Niemals wird ein Mädchen in einem Knabenchor singen“ gehört mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts der Vergangen- heit an.

  2. Das Gericht hat den Aussagen des Leiters des Staats- und Domchores in der Verhandlung am 16.8.2019 Glauben geschenkt, er würde nach diesem Pilotverfahren Mädchen nicht mehr generell ausschließen. Das Gericht hat der UdK Zeit eingeräumt, diese Aussage entsprechend in Aufnahme- und Ausschreibungsverfahren umzusetzen. Die UdK kann nun durch zügige Maßnahmen zeigen, dass ihr die gleichberechtigte und gleichwertige Förderung von Mädchen ein ehrliches Anliegen ist.Der Leiter des Staats- und Domchors kann beweisen, dass seine Aussage in der Ver- handlung am 16.8.2019, für ihn spiele das „Geschlecht keine Rolle“ und er werde ab jetzt Stimmen von Mädchen vorbehaltslos bewerten und gleichwertig ausbil- den, keine Lüge oder ein reines Lippenbekenntnis gewesen ist.Hintergrund: Der Chorleiter hatte noch am 18.3.2019 – also nach dem Vorsingen des Mädchens am 11.3.2019 – den Mitgliedern des Fördervereins des Staats- und Domchores erklärt, er habe niemals vorgehabt, Mädchen aufzunehmen und dies auch nicht in der Zukunft beabsichtigen. Hierbei nahm er Bezug auf die nach Anga- ben der Hochschulleitung in der Presse am 27.1.2019 veröffentliche Ablehnung des Mädchens.

    Den Aufnahmeantrag der Klägerin hatte er zuvor mehrfach abgelehnt, erstmals 2016, also in einem Alter von 7 Jahren, wo selbst nach den heutigen Aussagen des Chorleiters Mädchen den chortypischen Klang erlernen können. Seine Aussage im Gerichtsverfahren, das nunmehr 9-jährige Mädchen könne nur noch mit Testoste- ronspritzen wie im Leistungssport einen Knabenchorklang erlernen, entbehrt jeder fachlichen Grundlage.

    Hat das Klageverfahren bei den Beteiligten nach schier endlosen „Lavieren“ (Angabe der Beklagten) nunmehr zu einem Erweckungserlebnis und zum Umden- ken geführt, jedenfalls jüngeren Mädchen als der Klägerin Zugang zur Ausbildung zu ermöglichen, ist dies zu begrüßen.

3. Die Gerichtsentscheidung ist dennoch zu kritisieren:

  • Das Gericht verkennt ganz maßgeblich, dass die Ausbildungsmöglichkeiten von Mädchen und Jungen in Berlin gerade nicht gleich oder gleichwertig sind. Nur Jungen erhalten die intensive Gesangsausbildung an der UdK und dazu kostenfrei.Das Klageverfahren hat gerade auf diese Ungerechtigkeit versucht aufmerksam zu machen: „Kommen Ressourcen nicht zu Mädchen oder zu Mädchenchören, müssen Mädchen zu den Ressourcen kommen.“
  • Fantastisch ist die Interpretation der Richter, bei dem explizit auf „Jungen“ aus- gerichteten Werbeangebot des Chores seien „Mädchen“ mitgemeint.Die Auffassung des Gerichts, die Ablehnung eines Mädchens beruhe bei einem zu 100 Prozent männlich besetzten Chor, nicht unmittelbar auf dem weiblichen Geschlecht, erscheint lebensfremd.
  • Die Klägerin teilt nicht die Auffassung des Gerichts, wonach sich der Leiter eines Kinderchores durch die Kinder – quasi als Instrumente – in seiner künstlerischen Freiheit verwirklicht. Kinder sind keine Instrumente; sie sind auch keine Profis. Sie verdienen mit Singen nicht ihren Lebensunterhalt. Nicht der wirtschaftliche Betrieb, sondern die Ausbildung steht daher in staatlichen Chorschulen im Vordergrund.Die von der Klägerin vorgelegten englischen Studien hat das Gericht nicht berücksichtigt. Sie belegen, dass bei gleichem Repertoire und gleichem Gesangs- training Zuhörer nur mit an Zufälligkeit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Klangunterschied zwischen Mädchen- und Jungenchören wahrnehmen (vgl. Howard, Independent vom 9.3.2003: “Girls‘ singing voices‚ are just as pure as boys”.). Die Aufnahme von Mädchen kann die Kunstfreiheit deshalb nur minimal berühren; der genereller Ausschluss von Mädchen führt dagegen zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Diskriminierungsfreiheit.Das Gericht stellt tragend auf die subjektive Wahrnehmung des Chorleiters ab. Entscheiden sei, wie er allein Stimme und Motivation einer Bewerberin beur- teile. Diese Rechtsauffassung eröffnet jedenfalls dann praktisch unbegrenzte Spielräume für individuelle Ablehnungsmöglichkeiten, wenn keine fairen und geschlechtergerechten Aufnahmeverfahren installiert sind (sog. blind auditions). Dies muss jetzt entsprechen umgesetzt werden, um Vorbehalte wegen des Geschlechts entgegenzuwirken.


    Dr. Susann Bräcklein, Rechtsanwältin kanzlei@braecklein.com

 

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